Angeborene Taubheit ist die häufigste sensorische Fehlbildung bei Neugeborenen weltweit:
1 von 1.000 ist davon betroffen!
Frühzeitige Erfassung, Erkennung und Intervention sind eine absolut notwendige Voraussetzung für die Erzielung bestmöglicher Resultate. Schon im Jahre 1998 wurde unter dem Titel „European Consensus Statement on Neonatal Hearing Screening“ 1) folgender Satz publiziert:
„Permanent Hearing Impairment is a serious health problem affecting at least one baby in one thousand. Intervention is considered to be most successful if commenced in the first few months of life”.
(“Eine permanente Hörbehinderung ist ein ernsthaftes gesundheitliches Problem, das zumindest eines von eintausend Neugeborenen betrifft. Eine Behandlung wird dann am erfolgreichsten sein, wenn sie bereits in den ersten Lebensmonaten einsetzt“.)
Ungeachtet dessen, dass die Wichtigkeit der frühen Diagnose und Intervention schon vor vielen Jahren erkannt worden ist, haben heute immer noch einige Länder in Europa und weltweit das neonatale Hörscreening nicht als Routineuntersuchung eingeführt.
Ebenfalls schon im Jahre 1998 wurde gesagt, dass „sogar prälingual taube Kinder (d.h. Kinder, die vor dem Spracherwerb ertaubt sind, bzw. taub geboren sind) eine Chance von 90% haben, in die Normalschule integriert zu werden, vorausgesetzt, dass sie ein Cochlear Implant vor dem 2. Lebensjahr erhalten“.
In der Zwischenzeit haben wir auf der Basis von wissenschaftlichen Studien gelernt, dass diese Chancen sich noch erhöhen, wenn die Kinder das CI vor dem Ende des ersten Lebensjahres bekommen. Daher muss unser Ziel sein: „Je früher desto besser“ und dies gilt sowohl für die Diagnose als auch für die Behandlung.
In vielen Fällen ist das Cochlear Implant die erfolgversprechendste Wahl bei der Behandlung von Taubheit.
Die überzeugenden Ergebnisse hätten mittlerweile eigentlich folgende Realitäten schaffen sollen:
- Programme zum Neonatalen Hörscreening sind weltweit etabliert und
- Pro Million Einwohner wird eine vergleichbare Anzahl von Hörgeräten und Cochlear Implants verordnet
Dies ist leider ganz und gar nicht der Fall!
Die derzeitige Situation des neonatalen Hörsceenings
Der Appell: „ … implementation of Neonatal Hearing Screening programmes should not be delayed …. although the healthcare systems in Europe differ from country to country in terms of organisation and funding”
(“…die Etablierung der Programme zum neonatalen Hörscreening sollte nicht verzögert werden … wenn auch die Gesundheitssysteme in Europa von Land zu Land im Hinblick auf die Organisation und die Finanzierung voneinander abweichen”)
wurde von vielen gehört und akzeptiert. Dennoch, gleiche Chancen für alle Neugeborenen sind noch lange keine Realität!
Der Mangel an Hörscreening, Früherkennung (Diagnose) und Frühbehandlung (mit Hörgeräten, Cochlear Implants und (Re)Habilitation) ist nicht nur für die ärmeren Länder Afrikas oder Asiens typisch. Tatsächlich gibt es immer noch einige Länder in Europa, wo die Kinder eine nur geringe Chance haben, Zugang zum Hören und damit zu einem höheren Ausbildungsniveau und entsprechenden Berufsmöglichkeiten zu bekommen. Es überrascht nicht, dass dies für Länder wie Albanien, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Mazedonien, Serbien, Russland, die Ukraine – d.h. für die Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, zutrifft.
Leider aber ist auch Deutschland, eines der reichsten Länder der Welt mit einem hohen Prozentsatz des Bruttosozialproduktes für das Gesundheitswesen bis vor kurzem auf dem Niveau eines „Entwicklungslandes“, gewesen, wenn es um flächendeckendes neonatales Hörsceening und folglich eine frühe Behandlung der Kinder geht, die als hochgradig schwerhörig oder taub diagnostiziert worden sind. Erst 2010 wurde ein Gesetz verabschiedet, wonach das neonatale Hörscreening zwingend erforderlich ist, d.h. jedes Neugeborene darauf Anspruch hat. Entsprechend der föderalen Struktur des Landes ist die Situation immer noch nur in einigen Bundesländern zufriedenstellend, keineswegs in allen. Die Öffentlichkeit ist sich nach wie vor nicht wirklich bewusst, welch ausschlaggebende Bedeutung das Hören für die Entwicklung des Kindes als Persönlichkeit hat .Aus diesem Grund bestehen die Eltern nicht auf der Durchführung des neonatalen Hörscreenings bevor Mutter und Kind das Krankenhaus verlassen.
In anderen Ländern ist diese Untersuchung seit vielne Jahren Pflicht und wird in den „Mutter-Kind-Pass“ eingetragen (z.B. in Österreich seit 1993 und in der Schweiz).
Diagnose und Behandlungsmöglichkeiten
Wenn ein Kind den Screening Test nicht besteht, sollte er nach wenigen Tagen wiederholt werden. Wenn das Kind den Test wieder nicht besteht, muss eine eingehende Untersuchung folgen, und dies geschieht im Laufe von drei Monaten. Die Habilitation, die entsprechende Förderung des Kleinkindes, hingegen, kann sofort beginnen. Die Eltern müssen beraten werden, wie sie mit ihrem Kind, das aller Wahrscheinlichkeit nach hörbehindert oder taub ist, kommunizieren können und sollen.
Nach der Diagnose sollten entsprechende Hörgeräte – beidseitig – angepasst werden, und dies ist bereits im 6. Lebensmonat möglich. Im Verlauf der nächsten drei Monate stellt sich dann heraus, ob das Kind von den Hörgeräten einen Nutzen hat oder nicht.
Wenn dies nicht der Fall ist, ist das Kind ein Kandidat für ein Cochlear Implant (oder in sehr seltenen Fällen für ein ABI – Auditorisches Hirnstammimplantat). Die Eltern werden sicher alle Optionen überdenken und zwischen einem und drei Monaten brauchen, bis sie für eine Entscheidung bereit sind. Zu diesem Zeitpunkt wird das Kind knapp ein Jahr sein, und das bedeutet, es hat das optimale Alter für die Cochlear Implantation erreicht.
Die Operation ist nur der erste Schritt, eine Reihe von Sitzungen zur Anpassung des Sprachprozessors muss folgen, begleitet von der entsprechenden Förderung des Kindes, damit es lernt zu hören, und der Beratung der Eltern. Eine der erfolgversprechendsten Methoden der Habilitation ist der sog. Auditory Verbal Ansatz, wobei die Rolle der Eltern von überragender Wichtigkeit ist.
Kinder, die früh genug als hörbehindert erkannt und dementsprechend versorgt werden, haben alle Chancen vollständig in die Welt der Hörenden integriert zu werden, eine Normalschule zu besuchen, eine höhere Ausbildung zu genießen, Fremdsprachen zu lernen und Freude an Musik zu entwickeln. Die Lebensqualität wird für sie unvergleichlich besser sein!!
Wir haben die Verantwortung sicherzustellen, dass so viele Kinder wie möglich dem Schicksal der Taubheit entrinnen können und eine Chance bekommen, die Welt der Hörenden zu teilen.
Monika Lehnhardt
1) Edited by F. Grandori and M. Lutman, Milan, May 15-16, 199